Grüße aus der Zukunft 03

Ciderspace – die produktive Stadt

Ich habe drei Jahre lang in der Normandie gelebt und dort in der IT-Branche gearbeitet. Dann wurde mir der Job zu stressig, ich hatte eine Lebenskrise und bin zurück nach Deutschland. Was ich da am meisten vermisst habe? Ganz einfach: das französische Lebensgefühl! Sich Zeit nehmen für Genuss und Gemeinschaftlichkeit, wie in den kleinen Bistros, die es da an jeder Straßenecke gibt und in denen regionale Produkte angeboten werden. Alles ganz einfach, aber unglaublich gut. Ein Stück Brot, etwas Käse – und natürlich ein Glas Cidre. Den trinken da einfach alle, da sitzen dann am Abend die Banker und die Bauern an einem Tisch und diskutieren – manchmal auch recht heftig. Aber dieses Nebeneinander verschiedener Menschen und Meinungen ist toll.

 

Zurück in Deutschland wollte ich mich dann selbständig machen und bin eher durch Zufall auf die alte Essigfabrik in Wittenberge gestoßen, gut versteckt im Inneren eines Häuserblocks. Mir war schnell klar, was das für ein Potenzial hatte: Ich wollte hier etwas produzieren, und ich wollte die Leute in die Höfe holen, sie zum Ort der Gemeinschaft machen. Mein Hinterhof ist heute meine Braustube: Wer will kann jederzeit vorbeischauen und uns beim Arbeiten zuschauen oder auch selber mithelfen. Ein paar Mal im Jahr bieten wir Workshops an, die sind gut besucht – die Craft Szene wächst ja immer noch stark. Die meisten Leute kommen aber natürlich wegen des guten Apfelweins aus Wittenberger Äpfeln. Große Tische und lange Bänke stehen bei gutem Wetter direkt zwischen Brauerei und Lager im Hof. Man kann sich hier auf ein paar Gläser Cider treffen und herrlich über das Leben streiten. Das erste Jahr war etwas mühsam, da die Leute hier keinen Cider kannten und auch den Witz im Namen erst nicht verstanden haben – ist natürlich abgeleitet von meinem alten Job im Cyberspace. Heute ist hier außer meinem Online-Shop gar nichts mehr virtuell, alles ganz real: Mittlerweile hat sich ein Netzwerk aus Abnehmern und auch aus Zulieferern gebildet, denn Obst gibt es hier echt im Überfluss. Ich habe auch ein paar Apfelbäume im Packhofstrang gesponsert, die ich bewirtschafte. Eine Investition, nicht nur in mein Geschäft, sondern in meine Stadt.

 

Ich bilanziere seit dem letzten Jahr übrigens nach den Regeln der Gemeinwohlökonomie: Alle meine sechs Angestellten und auch die Saisonkräfte bekommen faire Löhne, und Überschüsse werden unter anderem in soziale Projekte investiert. Das ist viel nachhaltiger und auch sinnstiftender als die Jagd nach dem Return-on-Investment, um den es in meinem vorigen Leben ging.

.

Schon Wirklichkeit

Quartiermeister – social buisness aus Unternehmen und Verein, wirtschaftet nach Regeln der Gemeinwohlökonomie, Gewinne gehen in den Kiez, Berlin 2012

 

Prinzessinnengarten  – Nachbarschaftsprojekt mit integrativen Ansatz, Kurse zum Mitmachen, Verkostung, Versammlung, Berlin 2009

 

Stadt Land Beides – solidarische Landwirtschaft, „Ernteteilerinnen“ bilden Netzwerk für Produktion + Konsum regionaler Lebensmittel, Nürnberg 2013

 

Grüße aus der Zukunft  >>  Wittenberger Transformationsgeschichten

Alle Transformationsgeschichten wurden 2018 von subsolar* Architektur und Stadtforschung im Auftrag der Stadt Wittenberge entwickelt. Sie basieren auf den Erkenntnissen der Rahmenplanung Packhofviertel und aktuellen urbanen Transformationsprojekten.