CGN Spiegelkolonien

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Die „Spiegelkolonien“ machen die translokalen Verbindungen der Mülheimer zu Köln und zu ihren Herkunftorten erfahrbar. Was macht hier und in der Ferne den Ort Köln Mülheim aus? subsolar* plädiert im Beitrag für den Open Call des Schauspiels Köln „Die Stadt von der anderen Seite sehen“ für eine Erkundung der Lebenswelten hinter Ladengeschäften, Alltagsfassaden, Werbebannern und Hauswänden, um die transnationalen und -kulturellen Verflechtungen Köln Mülheims als Möglichkeitsraum fassbar zu machen.

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DIE SPIEGELKOLONIE

Kommst du nach Köln, erschließt sich dir schnell, dass der Fluss der wichtigste Ort in der Stadt ist: Er trennt die eine von der anderen Seite, und er verbindet beide.

Stehst du am Rheinufer, liegt die andere Seite der Stadt in weiter Ferne, denn der Fluss ist hier breit wie ein kleines Meer. Von hier aus gesehen, von dieser Seite, hat die andere Seite ein Gesicht, eine Ansicht. Unsere Ansicht. Hätte der Rhein nicht so eine unruhige Oberfläche, dann würde sich das Gesicht im Wasser spiegeln und zwei Gesichter, nein, ein Doppelgesicht bilden. Von der Wasserlinie aus wachsen Bäume, Häuser und Türme in die Höhe – und in die Tiefe.

Das Spiegelbild verdeckt, was man eh nicht sehen kann, die untere Seite der Stadt, ihren Untergrund. Stell dir einen spiegelglatten Rhein vor, der zwei Himmel zeigt, zwei Stadtgesichter, zwei mal die dünne Linie, auf der wir Menschen uns befinden, uns bewegen in der Stadt, unaufhörlich, und mit unseren Routen und Trajekten unsichtbare Spuren hinterlassen, Spuren, die wir selbst gar nicht sehen können, nur google und apple und all die anderen, die unsere Daten haben, in denen wir uns ebenso spiegeln wie Köln im Rhein, weil wir seit einiger Zeit Geräte mit uns herumtragen, die Trickspiegel sind, mit einer Oberfläche, in der du dich selber sehen und Fotos von dir machen kannst, aber dahinter ist noch viel mehr, und das siehst du nicht.

So, wie ja auf der anderen Seite des Wasserspiegels auch nicht nichts ist.

Manchmal steigt dieser Spiegel übrigens (seltsame Sprache: als hätte er einen eigenen Willen). Dann verschlingt das Wasser die Linie, auf der wir Spuren hinterlassen, die in Wirklichkeit eine Fläche ist, der Boden, auf dem du stehst, auf dem ich gehe, wir alle. Dann geraten die Verhältnisse durcheinander: Der Boden ist plötzlich unter Wasser, landunter sagt man auch, dem Spiegelgesicht fehlt der Mund, aber das kann man dann nur vom Boot aus sehen oder aus den oberen Stockwerken der Häuser, denn wir sind ja keine Vögel oder Fische. Wir brauchen diesen Boden, um uns fortzubewegen, um Häuser zu bauen, Getreide zu pflanzen, Fabriken zu errichten und so weiter,

du kennst das.

Wenn dieser Boden fraglich wird, ob bei Hochwasser oder weil jemand ihn dir wegnehmen will oder wenn dein Getreide nicht mehr wächst oder deine Fabrik schließt, dann suchst du dir neuen Boden, es geht ja nicht ohne. Du gehst dann durch einen Spiegel wie Alice, hoffst irgendwie auf das Wunderland, und obwohl im Wunderland eigentlich alles auf den ersten Blick ganz normal aussieht, also jedenfalls nicht zu groß oder zu klein, setzt sofort diese eigenartige Fremdheit ein.

In dem Moment, wo du durch den Spiegel trittst, fängst du an, dich deiner Herkunft zu versichern, psychisch, physisch oder ganz praktisch mit einer Versicherungspolice. Wenn du jetzt, hier, in den Spiegel schaust, siehst du dich selbst, wie du dich veränderst, älter wirst und vielleicht gelassener, vielleicht auch zorniger, du siehst die Deinen hinter dir im Spiegel, die hier auf der einen und die dort auf der anderen Seite, und auch sie werden älter und vielleicht zorniger und vielleicht gelassener, es kommt darauf an.

Du bist natürlich auch nicht die Einzige, die hier in Mülheim durch einen Spiegel gekommen ist, es gibt viele von euch, von uns, aus ganz verschiedenen Herkunfts- und Heimatspiegelländern, von unterschiedlichen anderen Seiten, und alle bringen ein Stück mit von ihren Boden- und Wohngewohnheiten, ihren Farben, ihren Sprachen, ihren Sehnsüchten, ob sie nun aus Bad Godesberg oder aus Georgien kommen.

In uns reflektiert sich das Rheinseitengesicht und wir bilden kaleidoskopische, periskopi-sche und zeiträumliche Spiegelorte in der Stadt, hier am Wiener Platz in Mülheim zum Beispiel, der nach einer anderen Stadt heißt, in einem anderen Land, das sogar hinter Bergen liegt – sind es sieben?

Wenn wir von hier aus wieder zum Rhein hinuntergehen, sehen wir nicht mehr unser Gegenüber, sondern uns selbst, unser eigenes Spiegelbild. Wie kann das sein? Es gibt nur eine Erklärung: Wir sind auf die andere Seite geraten, ohne es gemerkt zu haben,

sind durch den Spiegel in unserer Stadt

in unsere Stadt gekommen,

die in Wahrheit nichts anderes ist

als eine Spiegelkolonie.

Wiener Platz Spiegel 3

Mitarbeit: Diana Lucas-Drogan, Marina Thelen


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